Ros, die sich nach ihrem Dinosaurier Okerle sehnte, betrachtete die grünlichen Schaumkronen auf dem Wasser und stellte sich vor, es wären seine Dinomähnen.
Sie war überzeugt, dass auch Okerle sie vermisste. Die Fähre brachte sie nun wieder zurück zum Festland, stampfte dabei über die Wellenkämme. Ros machte sich daraus ein Spiel zu ihrem einsamen Vergnügen und glitt in Gedanken mit Okerle über die blaugrüne Wiese des Meeres.
Mit fünf Jahren reiste sie zum ersten Mal zu der für sie geheimnisvollen Insel. Mit dem Zug und dann mit einer Fähre, fort aus dem ihr bekannten Dorf, fort aus der ihr bekannten Umgebung, fort von ihrer Familie. Ihre Oma Ida reiste mit und zeigte fröhlich plaudernd aus dem Fenster, um ihrem Enkelkind die Veränderungen in der vorbeihuschenden Landschaft zu erklären. Nach langer Reise, viele Stunden später stiegen sie dann in dem kleinen Hafen, ganz an der Spitze des Festlandes, auf die Fähre um. Nach etwa einer Stunde Fahrzeit legte die Fähre im Inselhafen an. Die nur wenigen Passagiere verließen die Fähre über die schmale Anlegerbrücke. Mit ihren beiden Händen an der Mütze, der Wind wehte hier kräftig, schaute sich Ros neugierig um. Einige Fischkutter, kleine Schiffe und noch kleinere Boote lagen im Hafen. Und über allen kreisten und riefen Möwen, große Möwen, viel größere als sie von Daheim kannte. Im Hintergrund waren weiße Berge zu erkennen und noch weiter weg ein hoher roter Turm. Auch wenn sie damals noch recht unwissend war, spürte sie sofort eine große Vertrautheit zu dieser Insel.
Die Koffer wurden von einem ruppig aussehenden Mann, mit einer großen Pfeife zwischen den Lippen, die von einem langen weißen Bart eingerahmt wurden, auf einen Holzkarren gepackt. Von zwei mächtigen Ostfriesenpferden wurde er gezogen. Die Oma begrüßte den Mann mit: „ Guten Tag, Alfred, schön dass uns abholst; und das ist Ros, die Jüngste. Es ist Zeit, dass sie die Insel kennenlernt. „Moin, Moin, Ida, Ros, na dann wollen wir mal, kommt mit auf den Kutschbock. Ros, schön festhalten, ist windig bei uns.“ Und schon fuhren sie los, raus aus dem Hafen und den weißen Bergen entgegen. Beim Näherkommen erkannte Ros, das die weißen Berge aus Sand waren mit lustig im Wind tanzenden Gräsern. Dünen und Strandhafer, wurde ihr von den Erwachsenen erklärt.
Das kleine rote Dünenhaus mit Rieddach von Alfred sollte nun auch das zu Hause für Oma Ida und Ros sein, zumindest für die Urlaubszeit.
Im Laufe der nächsten Jahren wiederholten sich die Reise und die Szenen. Norderney wurde für Ros eine zweites Daheim und sie erkundete die Insel bald alleine, ohne Oma Ida, ohne Alfred. Die Ausnahme war Heiko, ein Junge aus Alfreds Familie, er durfte sie begleiten. Er wohnte am Südstrandpolder, direkt am Deich, er zeigte ihr viele Verstecke und unbekannte Wege. Gemeinsam durchstreiften sie die Dünen im Naturschutzgebiet, sie durchwanderten die Salzwiesen und bei Ebbe das Wattenmeer. Zu den Seehundsbänken am Ostende der Insel wanderten sie. Das vor Jahren dort auf Sand gelaufene Wrack gehörte mit zu ihren Streiftouren. Darauf sitzend stellten sie sich vor, woher es kam, wie es hierher gekommen war, warum es strandete und welche Fracht es mit sich geführt hatte.
Manchmal ging Ros auch alleine, ließ ihren Gedanken und Wünschen freien Lauf. Sie stellte sich vor, ein Hund, ein kleines Pferd, ein Zicklein, ein Schaf oder gar ein kleines Galloway würde sie begleiten und nicht von ihrer Seite weichen. Sie würden zusammen die letzten Geheimnisse der Insel erkunden, denn so ein Tier findet andere Wege als ein Mensch.
So auch an einem besonders sonnigen Morgen. Juni war es, die Nächte waren ganz kurz, mit dem Sonnenaufgang um fünf Uhr stand auch Ros auf. Früh packte sie ihren roten Rucksack, etwas zu Essen und zu Trinken und etwas Süßes zum Naschen , eine Decke und andere für sie wichtige Dinge waren ohnehin immer dabei. Sie hinterließ eine kurze Nachricht für Oma Ida.
Bald war sie in der wilden Dünenlandschaft, die ihr so bekannte Geräuschkulisse des Meeres von der linken Seite und der unzähligen Vögel, Möwen, Gänse und Blässhühner von überall.
Gegen Mittag, die Sonne stand jetzt ganz hoch am strahlendblauen Himmel, suchte Ros einen schattigen Platz zum Rasten. Keine Bäume, kein Schatten nur Sand und das wilde Meer. Mit suchenden Augen entdeckte sie bald einen Hochsitz der normalerweise auf den Badestränden steht. Sie wunderte sich kurz und einige Minuten später hatte sie einen gemütlichen Rastplatz direkt zwischen den hohen, hölzernen Beinen hergerichtet. Ihre mitgenommen Vorräte verzehrte sie genüsslich. Noch kauend kletterte sie flink die Holzstufen zu der Plattform und genoss den wunderbaren Weitblick über das blaue Meer, bis hin zur Hochseeschifffahrtslinie am Horizont.
Sie freute sich über das Spiel der Wellen, weit draußen vor der Sandbank. Riesige Wellen, dann hielt sie die Luft an, ein kleines, langes, überraschendes: „Ohhhhhhhhhhhhhhhh“ und rieb sich die Augen. So ein großes Strandgut hat sie noch nie gesehen. Gigantisch, dunkelgrün schimmernd, zottig und sehr, sehr merkwürdig. „Was ist das, was wird das? Warum bewegt sich das Ding jetzt auch noch ? Oma, Alfred, Heiko, wo seid Ihr? Was soll ich tun? Pfeifen hat Papa immer gesagt, wenn ich im Keller Angst hatte, pfeifen. „
Also pfiff sie los, anfangs zögerlich, allmählich fügten sich die Töne zu einer Melodie. Dabei immer zu der Sandbank mit dem grünen Etwas schauend, dass noch immer in Bewegung war. Kam diese Bewegung von den Wellen oder bewegte es sich alleine? Nun schien es eine Form anzunehmen. Ros vergaß vor lauter Staunen oder Überraschung das Pfeifen. Ein massiger Körper mit langem Schwanz und langem Hals, obendrauf ein kleiner Kopf und unten stämmige, kurze Beinchen. So grün wie das ganze Ding wehte eine, glitzernde Mähne von eben diesem kleinen Kopf und am unendlich langen Hals hinab. Es kam ihr bekannt vor, das gab es doch als Marionette in der Augsburger Puppenkiste, mit Oma Ida durfte sie das Sonntags im Fernsehen schauen. Nur das Ding da war ja viel, viel größer.
Also nahm sie wieder ihr angstvertreibendes Pfeifen auf und starrte dabei weiterhin über das Meer zur Sandbank, zu dem Ding. Anscheinend hat es Ohren am kleinen Kopf, den es nun in Richtung Ros drehte, den Mund, das Maul, dabei formte und ebenfalls pfiff. Aber was für Pfiffe, sie übertönten das Getöse der Wellen. Ros fiel die Trillerpfeife ein, die immer im Rucksack war, das hatte Alfred ihr geraten. Also schnell runter, die an einem grünen Band hängende Pfeife aus dem Rucksack genommen, komisch auch grün, dachte Ros, während sie sich das Band umhängte und dabei die Stufen fast hochstolperte. Oben wieder angekommen ein langer Ton aus der Trillerpfeife, das Ding war inzwischen verstummt, entdeckte nun Ros, schaute zu ihr und fing ebenfalls wieder das Pfeifen an.
Der grüne Körper war nun ganz in Richtung Strand gedreht und tapste langsam mit den kurzen, dicken Beinen Richtung Sandbankende. Ros trillerte weiter. Aus Angst oder wollte sie das Ding anlocken? Sie entdeckte nun auch die kleinen, grünen Flügel, links und rechts an dem dicken Körper, die bei jedem Schritt lustig, wie die Mähne, im Wind flatterten. Als es das Ende der Sandbank erreichte hatte, ließ es sich sehr elegant ins Meer gleiten und kam näher zur Insel, behielt Ros dabei fest im Blick und pfiff weiterhin. Bald hatte das Ding den Strand mit dem Hochsitz erreicht, platschte etwas ungeschickt auf den Sandstrand und marschierte direkt auf Ros zu. Ahmte dabei die Melodien von Ros nach. Aus der Höhe und nun bedenklich nahe, konnte Ros die grünen langen Wimpern über den genauso grünen Augen erkennen, sogar die Zunge, die ab und an zu sehen war, war grün.
Vor dem Hochsitz blieb es stehen, das Pfeifen war in einen freundlichen Summton gewechselt und das Ding schien Ros anzugrinsen. Ros im Sington: „ Du bist so grün wie die Oker, der Fluss von dem ich komme, weit weg von hier. Ja, ich werde dich Okerle nennen. OKERLE. „ Dabei streckte sie beide Arme über die Brüstung streichelte über den Kopf, spielte mit der Mähne. Zufrieden brummend machte es eine einladende Bewegung mit den Flügeln und Ros zwängte sich durch die Latten der Plattform, umklammerte den grünen Hals und rutschte langsam, Sicherheit in der Mähne suchend bis zum Rücken runter. Freundlich grinsend und wieder pfeifend marschierte es nun samt Reiterin dem Meer entgegen um dann mit ihr durch dieses zu gleiten. Zwischendurch war ihnen die Sandbank, draußen im Meer ein guter Rastplatz. Ros erzählte alles was ihr so einfiel, von zu Hause, von der Insel, von ihrer Familie und natürlich von Heiko. Okerle hörte mit gespitzten Ohren zu und brummte verstehend zurück.
Am Stand der Sonne sah Ros, das es Zeit wurde dieses Abenteuer für heute zu beenden, Oma Ida und Alfred würden sich sonst Sorgen machen. So ließ sie sich an den Inselstrand, zum Hochsitz zurückbringen. Während sie Ihre Sachen zusammensuchte schaute Okerle interessiert zu. Im Rücksack fand Ros noch eine Schokolade, die sie mit ihrem grünen Freund teilte. Ob er oder sie es nun verstand, sie verkündete dass sie morgen wieder hier sein würde, zum Hochwasser. Der grüne Kopf auf dem langen grünen Hals nickte, mit den Zähnen riss es sich ein Haar aus der Mähne und wickelte dieses Ros um ihren Hals. Beide gingen dann getrennt in verschiedene Richtungen.
Ros zum Dünenhaus von Alfred und Okerle ins Meer.
Sie erzählte niemanden von ihrem Abenteuer mit Okerle, nur dass es ein spannender Tag mit vielen Überraschungen war. Das grüne Haar versteckte sie sorgfältig im Rucksack.
Am nächsten Morgen stand sie wieder zeitig auf, verbrachte den Vormittag mit Oma Ida und zog dann mit einem frischgepackten Rucksack Richtung Dünen los. Schokolade und Kekse, zwei Bananen und zwei Äpfel, die Trillerpfeife und eine Decke. Sie war gespannt, ob Okerle an dem vereinbarten Platz kommen würde oder überhaupt zu sehen war. Am Hochsitz war es nicht, draußen auf der Sandbank donnerten die Wellen am Strand, die Möwen kreischten. Aufgeregt kletterte Ros samt Rucksack auf die Plattform, band sich das grüne Haar und die Trillerpfeife um, pfiff und signalisierte so, dass sie da ist. Und wirklich, das gleiche Schauspiel wie gestern, nur ohne vorsichtige Verzögerungen. Okerle wurde mit den Wellen auf die Sandbank gespült, es rappelte sich auf, marschierte an der anderen Seite in‘ s Meer und schwamm elegant zum Strand, wo Ros schon ungeduldig wartete.
Zur Begrüßung gab es Schokolade und Kekse für Okerle und für Ros ein glitschiges, aber zärtliches Abschlecken mit der grünen Zunge. Ros verstaute Ihren Rucksack oben auf der Plattform und schlang sich ohne Zögern um den Hals und saß kurz darauf sicher auf dem Rücken, hier begrüßten sie die kleinen Flügel und signalisierten, STARTKLAR und los ging es. Ros schien es, als ob Okerle etwas kleiner wäre als am ersten Tag. Den Strand entlang und dann ab ins Meer, dieses Mal zu einer anderen Sandbank. Gegen Abend kehrten sie zurück , verzehrten Banane und Apfel , Ros bekam ein zweites, grünes Haar und die Verabredung für den nächsten Tag war auch ohne Worte klar.
So gingen die Sommerferien zu Ende, bald war der letzte Tag angebrochen und Ros zog wie jeden Tag Richtung Hochsitz. Sie hatte sich inzwischen auch daran gewöhnt, das Okerle bei jedem Treffen etwas kleiner war als am Vortag. Das Reiten ging bald nicht mehr, stattdessen schwammen sie nebeneinander im Meer, sie konnte sich an der Mähne festhalten. Und immer kleiner wurde Okerle, sein Pfeifen und brummen leiser,aber er begrüßte sie nach wie vor mit einem fröhlichen Grinsen und schenkte ihr jeden Tag ein grünes Haar. Längst passten diese nur noch um ihren Finger.
„ Werde ich Okerle heute überhaupt noch sehen, wie winzig wird es sein?“ Mit dieser bangen Frage marschierte Ros wieder Richtung Dünen. Unter dem Hochsitz hatte sich Meereswasser vom letzten Hochwasser gesammelt, diese Vertiefung war im Lauf der letzten Wochen entstanden, da sie hier oft zusammen saßen und mit den Füssen eine kleine Sandburg zusammengeschoben hatten. Ros wickelte sich schnell in die unzähligen grünen Haare, pfiff ein letztes Mal für diesen Sommer mit der Trillerpfeife und schickte dabei einen langen sehnsüchtigen Blick über das Meer.
Ein ganz leises Pfeifen aus der Pfütze vor ihr ließ sie runterblicken und nun sah Ros ihr Okerle.
Ein wunderschönes, grünglänzendes Seepferdchen.
Rosemarie, im September 2014
Diese kleine Erzählung ist im April 2022 in meinem Kurzgeschichten Band Nr. 1 aufgenommen:
Die Geschichten vom Okerkind
Vom süßen und vom salzigen Wasser