Das Orakel

Orakel

Gegenstände –  etwas Lebendiges – eine Pflanze  – der Stand der  Sterne ?

Ich -> Person -> fragend -> Orakel

Orakel -> Person -> antwortend –> Ich

Sind es direkte oder auslegefähige Vorgaben, frei nach dem:  Ich  würde gerne wissen ob…

Bestimmt das Orakel das Ziel oder auch den Weg.

Sind Änderungen ohne vom Ziel abzukommen zulässig.

Konkreter Gedanke, konkrete Frage:
Wenn vor vielen Jahren ein Orakel nach meinem Weg gefragt worden wäre und es hätte Antworten geben müssen,  was wäre das Ergebnis gewesen?
Angenommen,  mein Papa, ein künstlerisches Genie,  hätte wissen wollen,  was aus seiner kleinen Gnu wird.  Wen hätte er gefragt und in welcher Form wäre das Orakel  gewesen?

August im Sommer 1951

Am Ende der Nebenstraße, die direkt zu den Okerwiesen führt, steht rechterseits ein altes Hospital, etwas verwunschen sieht es aus, mit seinen kleinen Butzenfenstern und den niedrigen Türen.  Aus tonroten Steinen mit Fachwerk ist es gebaut, Giebel und Gauben und ein kleiner Glockenturm, sowie eine Toreingang unterstreichen diesen Eindruck.  Auch die Menschen dort wohnend, muten mitunter seltsam an. So wie die kleine, uralt aussehende Frau, gerade 1,5m groß,  die stets mit Ihrer Kiepe unterwegs ist. Täglich ist sie zu sehen, wie sie auf einem Stock gestützt in die Wiesen oder in das Dorf geht und irgendwann gegen Abend zurückkommt. Ein Kopftuch bedeckt Ihre Haare, Ihre Kleider wirken etwas zerlumpt, Kleid, Schürze, Strickjacke, Wolltuch, Wollstrümpfe und derbe Lederstiefel, weisen Flicken auf und sind in undefinierbaren, ausgewaschenen Farben. Stets grüßt sie mit einem freundlichen Kopfnicken, sprechen hat sie noch niemand gehört, außer einem gelegentlichem Ja, Ja. Sie verbreitet  trotzdem einen ordentlichen, wenn auch sehr rätselhaften  Eindruck.  Oft ist sie auch in dem kleinen Garten zu sehen,  der zur Südseite angelegt ist, zwischen Hospital und Wiese. Oft fragen sie vorbeigehende Spaziergänger, warum Ihre  Blumen, Kräuter und Gemüsepflanzen die schönsten, duftigsten und größten sind, die es im Dorf zu sehen gibt.  „Ja, ja“,  Ihre übliche Antwort, mehr ein Nicken denn ein Satz.
Weit über die Dorfgrenzen hinaus kreisen die Gerüchte, dass diese Alte außergewöhnliche Fähigkeiten hat,  mehr als nur die schönsten Pflanzen und Kräuter zu ziehen. Heilkräfte besitzt sie  und die Zukunft kann Sie voraussagen. Auch wenn man sie sonst kaum sprechen hört,  außer Ja, Ja. Dabei würde sie Laute von sich geben,  ein Singsang wäre es, Gemurmel  und Summen,  aber jeder der bei Ihr war,  hat gesagt es wäre klar zu verstehen gewesen.
Paar Tage nachdem ich geboren war,  fast mein  Papa den mutigen Beschluss zu der alten Frau in das Hospital zu gehen,  er will wissen, welche Zukunft seine kleine Tochter hat. Es muss nur der richtige Zeitpunkt sein und niemand darf davon erfahren, niemand. Als kurz darauf die komplette Familie, außer meinem Vater zu einem Besuch bei einer Großtante im Nachbardorf aufbrechen, ist  es soweit.   Er packt seinen Rucksack  voll mit Gaben für die Alte:  Räucherwürste, ein Stück Schinken, Dosen mit Mett,   Brot,  Eier, selbstgebrauten Schnaps und Wolle von der letzten Schafschur. Er packt allen Mut zusammen und geht Richtung Wiese, Richtung Hospital, geht durch den Torbogen, betritt das Innenhof vom Hospital und schaut sich suchend nach der beschriebenen Tür um.  Hinten links entdeckt er   die rosenumrankte kaum 1,5m hohe Tür.  Aufgeregt betätigt er den Türklopfer, ein Löwenkopf aus Eisen.  Warum ein Löwenkopf?   meine Gnu ist unter dem Sternzeichen Löwen geboren,  so ein Zufall oder kein Zufall?
Drinnen hört er ein: „ Ja, Ja“ und sich schlurfend nähernde Schritte. Die Tür wird geöffnet und ein:  „Willi, tritt ein, ich habe Dich erwartet. „ Also kann sie doch sprechen,  was erzählen die Leute denn für einen Blödsinn, sind kurze Gedanken meines Papa’s, während er Ihr durch das Halbdunkel des niedrigen Zimmer folgt. Hinten sind durch ein Fenster die Okerwiesen zu erkennen und er fühlt sich etwas sicherer.  Mit einer einladenden Handbewegung bedeutet sie ihm am Tisch Platz zu nehmen und zeigt auf einen leeren Korb,  der auf diesem steht.
„Zeige mir, was Du mitgebracht hast und ich zeige Dir, was Du wünscht“  eher singend denn sprechend weist sie so meinen Papa an,  den Rucksack zu leeren. Sie kaum wagend anzusehen, leert er den Inhalt seines Rucksackes in den Korb. „Tja, Tja“ ist der einzige Kommentar Ihrerseits  als sie dann den gefüllten Korb nimmt und damit in einen Nebenraum, die Küche?  verschwindet. Zurück kommt Sie mit einem kleineren Korb und stellt diesen auf den Tisch, direkt  vor meinen Papa. Viele Gegenstände, unverkennbare wie getrocknete Pflanzen, getrocknete Kleintiere und Insekten, Knochen,  Steine, Fäden,  Schmuckstücke, Muscheln, kleine Stoffsäcke mit unsichtbarem Inhalt und etliches,  auf den ersten Blick nicht Erkennbares sind in diesem dunkelbraunen Korb.
Mit kristallklaren, blauen Augen sieht sie meinen Papa an und hebt gleichzeitig die rechte Hand und zeigt ihm drei Finger, die anderen sind gen Handinnerem gerichtet.  Verwirrt schaut mein Papa in diese blauen Augen und denkt: die haben doch sonst nicht so geleuchtet, wo kommt dieses Strahlen her? Und was sollen diese drei Finger?  Soll ich besser gehen? Nein, ich will es wissen und warum zeigt sie jetzt mit der anderen Hand auf den Korb?  Dann wieder dieser Sing-Sang: „ Nehme drei Gegenstände aus dem Korb,  wähle sie mit Bedacht und denke dabei an das Kind, wegen dem Du hier bist.“
Die Wahl fällt  auf:  eine Muschel, ein Stoffsäckchen und eine kleine aus Holz geschnitzte Flöte.
„Ja, Ja, recht gewählt“  murmelt die Alte vor sich hin, während Sie selber in den Korb greift und eine getrocknete Rose herausnimmt und quer über die anderen drei Gegenstände legt.
„Eine turbulente Zeit wird Deine Tochter haben, nenne sie Rosemarie. Sie wird Dich aber mit recht jungen Jahren verlassen und Ihr  Leben fernab von Dir führen.  Die Musik wird Ihre große Leidenschaft und Liebe werden,  sie wird deswegen viele Reisen unternehmen.“
(sagt die Flöte, denkt mein Papa, ist ja leicht, ich bin ja selber Musiker und liebe  die Musik).
„Das Meer wird Ihre immer die Heimat bieten,  die sie an manchen Orten,  an denen sie wohnen wird, nicht findet. „ Während Sie dieses ausspricht, wieder eher singt,  öffnet sie den kleinen Stoffsack und der Duft von Meer und Salz weht heraus.  Nordseesand also, denkt mein  Papa, mein Schwager hat doch eine Wohnung auf Norderney,  wird sie dorthin ziehen und wann und an wie vielen Orten wird sie vorher wohnen?
„Wie die  Oker wird das Leben von Deinem Kind stets vorwärts fließen, mal mit viel Strömung, mal ganz seicht,  aber immer vorwärts treibt es sie,  kein Halten , keine Rast, vorwärts.
Vieles einsammeln und mitnehmen wird sie, und  vieles wieder links und rechts liegenlassen auf Ihrem stetem Weg zum Ziel.  Wie die Oker, die verborgen hinter den Böschungen Ihren Weg zieht und doch stets bereit ist sich zu zeigen,  wird auch Deine Tochter  Ihren Weg gehen, für Dich verborgen, geheimnisvoll um sich dann wieder mit ungezügelter Lebensfreude zu zeigen.“   (sagt die Muschel, eine Süßwassermuschel, denkt mein Papa, das gefällt mir,  meine Tochter, als ein Kind der Oker zu sehen.)
„Ja, ja“  mit diesen Worten,  holt die Alte meinen Papa aus seiner Gedankenwelt in die Realität zurück.
Ein letzter Sing-Sang. „ Nun gehe nach Hause,  Deine Tochter wartet auf Dich. Und rede mit Niemanden über die hier kundgetanen Worte, sie könnten sonst in falsche Wege geleitet werden.“
Mit leerem Rucksack, einem fröhlichem Herzen und dem Wissen,  dass seiner kleinen Gnu ein Gutes Schicksal bestimmt ist,  kommt  mein Papa zufrieden zu Hause an. In diesem Moment kehrt auch die Familie  von dem Besuch im Nachbardorf zurück.  „Hallo, meine kleine Rosemarie,  ja Du bist meine Rosemarie.“  Mit diesen Worten nimmt er mich vom Arm meiner Mutter und drückt mich ganz fest an sich.

Angenommen,  mein Papa, ein künstlerisches Genie,  hätte dieses so erfahren, welche Freude wäre es ihm gewesen, zu sehen,  dass alles so eingetreten ist,  wie die alte Frau es vorhergesagt hat.

Rosemarie,  März 2013 und auch mit Gültigkeit im Januar 2018

Die Okterwiesen mit Hospital