Die Hand – ein Konzerterlebnis aus anderer Sicht

Sommer 2003 – Vierzig Jahre und kein bisschen leise.

Das trifft auf Beide zu, die Musiker da oben, die gleich auf die Bühne kommen werden und die Fans hier unten, die auf den Konzertbeginn warten.
Seit Stunden harren viele von Ihnen aus, zumindest die ich in unmittelbarer Nähe vor mir sehe.
Wie seit Jahren, bin ich auch bei diesem Konzert wieder an der linken Bühnenseite platziert.
Von hier aus fange ich mit meiner Kamera die besten Bilder von der Bühnenshow und auch vom Publikum ein.  Sie ist auf dem weitausladenden schwenkbaren Teleskoparm befestigt, so dass ich perfekt die gesamte Kulisse filmen kann, die dann 1 zu 1 über die riesige Leinwand, direkt über der Bühne, wiedergegeben wird.  Entweder eine Totalaufnahme der Bühne, samt den Künstlern oder vom Station, der Arena. Im Wechsel mit ganz nah gezoomt Aufnahmen der Bandmitglieder oder ein besonderer Fan im Publikum. Begeisterte, glückliche Gesichter und singende, tanzende Menschen. Arme werden weit ausgestreckt im Takt der Musik hin und hergeschwenkt, Hände klatschen im Rhythmus mit. Es wird mitgesungen oder einfach nur mit strahlenden Augen und beglückter Gestik der Musik gefolgt.
Nun, kurz dem Auftritt der Band packt mich selber wieder diese Spannung, das Intro startet, die Scheinwerfer erfassen die ersten Reihen im Publikum, schneller und schneller gleiten die weißgleisenden Lichtstreifen über die ersten Reihen, einige Gesichter sind sekundenlang zu erkennen. Das Intro steigert die Spannung, das Publikum fiebert der Band entgegen. Meine Kamera ist ebenfalls startklar und folgt dem Scheinwerferlicht in das Publikum hinein. Dichtgedrängt stehen sie direkt an der Absperrung, dahinter 100te von Reihen, bis weit hinten, sich im Dunkeln auflösend.
Ich führe die Kamera zurück auf die Bühne, noch leer. Zurück an die Absperrung und endlich, ich hatte es gehofft, ist sie wieder da, die Hand; sie sind wieder da, diese Hände mit den roten Handschuhen. Die Stelle merke ich mir, Höhe Mick und jetzt die Kamera zurück auf die Bühne, die Band kommt heraus und die Show beginnt.
Was nun kommt, ist Routine, die besten Szenen einfangen, Impressionen vom Publikum, beides im Wechsel, direkte Wiedergabe über die große Leinwand und über die beiden kleineren Leinwände links und rechts neben der Bühne.
Zwischendurch wandere ich mit dem Sucher die Absperrung entlang, schnell habe ich mein Ziel gefunden.   Die rotbehandschuhten Hände fixieren den Platz in der ersten Reihe. Kurz von der Kamera eingefangen, schon werden sie überdimensional über die Leinwand wiedergegeben. Kurz, für Sekunden nur. In diesem Moment schaue ich ihr, der Frau, die zu diesen Händen gehört in Ihr Gesicht, sie lächelt in meine Richtung, um dann wieder gebannt auf die Bühne zu schauen. Seit Jahren kenne ich diese Hand, diese Frau. Bei vielen Konzerten in den letzten Jahren stand sie dort, wie auch heute. Ohne Begleitung, allein, glücklich mit sich selber und in die Musik versunken. Egal ob langsame oder schnelle Songs, sie scheint alle zu kennen und singt alle mit.
Sie sieht hübsch aus, auch heute wieder in einem schwarzen Kleid. Ein toller Kontrast zu Ihren roten Haaren. So um die 1,60 m dürfte sie sein, deswegen ist es gut, dass sie Ihren Händen den Platz in der ersten Reihe ermöglicht.  Etwas blass sieht sie aus, umso intensiver kommen da ihre rotgeschminkten Lippen zur Geltung. Ich meine sie am Nachmittag mit einem schwarzen Spitzenschirm gesehen zu haben, als Schutz vor der Sonne, deswegen auch die Blässe. Sie ist bestimmt eine sehr zielstrebige und ehrgeizige Person, denn es gehört schon viel Energie dazu, sich einen Platz in der ersten Reihe bei so großen Konzerten wie diese, mit teilweise 100.000 Personen, zu sichern.  In Ihrer aufrechten Haltung erkenne ich, dass Sie weiß, dass Sie stolz sein kann und stolz ist, wieder ganz vorne zu stehen.  Ich führe meine Kamera in Ihre Richtung, fange Ihre Hände ein und bringe sie so wieder auf die Leinwand, bevor ich mit der Linse weiterwandere, gleite ich über Ihr Gesicht. Suche Ihre strahlenden blauen Augen.  Wie alt mag Sie sein?  Jenseits der Fünfzig, rechnerisch, zwanzig sagt Ihre Ausstrahlung.
Die Stimmung steigt von Song zu Song, beim Publikum wie auch oben auf der Bühne. Bei hunderten von Konzerten war ich dabei, überall auf der Welt war ich der Kameramann und doch, sie ziehen auch mich jedes Mal in Ihren Bann.  Sowie die kleine Lady da, mit Ihren roten Handschuhen.  Ein langsamer Song, eine Ballade, Großaufnahme von Mick, das Publikum singt auch hier ganz hingebungsvoll mit.  Und eine wunderbare Aufnahme von Ihr, wie Sie mit Ihren roten Handschuhen einige Tränen auffängt, schnell auf die Leinwand projektiert. Dann umklammert Sie wieder die Abzäunung, sichert so Ihren
Platz, als ob Sie diesen nie verlassen will.
Das Konzert nähert sich dem Ende, Band und Publikum im Rausch der Musik.
Die Zugaben sind gespielt, die ein letztes Verneigen der Künstler und für mich die Gelegenheit die Hand mit den roten Handschuhen ein letztes Mal auf die Leinwand zu beamen und wieder, wie bei allen unseren gemeinsamen Konzerten wirft sie rote Rosen auf die Bühne.  Wo hat Sie diese so lange versteckt und frischgehalten?  Dann ein fragender Blick in meine Richtung, begleitend von einem zauberhaften Lächeln. Sehen wir uns wieder, beim nächsten Konzert?
Sie winkt mir mit Ihren roten Handschuhen, setzt den kleinen, schwarzen Rucksack auf, nimmt Ihren Schirm, ein allerletzter Blick auf die Bühne. Sie dreht sich um, scheint etwas unentschieden zu sein und folgt dann doch den anderen Fans Richtung Ausgang. Ein letztes Mal sehe ich Ihre roten Handschuhe, Sie winkt, einfach so.

Rosemarie Germer 06. September 2017

Diese Geschichte ist nach einem Konzert in 2003 geschrieben – und morgen 14 Jahre später fahre ich nach Hamburg – um dort wiede die Rolling Stones zu sehen.